Die bedeutenden Golfplätze in Schottland haben oft einen Starter, dessen Aufgabe es ist, die am ersten Tee abschlagenden Golfer geordnet und wohlinformiert auf die Runde zu bekommen. Dass St. Andrews etwas Besonderes ist, wird auch dadurch deutlich, dass dort jeder der vielen Plätze einen eigenen Starter hat.

Der erste Abschlag des New Course liegt ungefähr 500 Meter vom Old Course entfernt, der Jubilee Course ist kaum 100 Meter entfernt. Der ältere Herr in seinem Starterhäuschen tut das, was er vermutlich schon tausende Mal getan hat: Er heißt einen weiteren Golfer Willkommen. „Sind Sie zum ersten Mal hier? Willkommen zurück! Die Entfernungen sind in Yards, unglücklicherweise nicht in Metern, tut mir leid. Das Tee ist frei, Sie dürfen abschlagen, wann immer sie möchten. Wie ist Ihr Handicap? Wenn Sie Lust haben, dann dürfen Sie gerne von weiß abschlagen. Genießen Sie die Runde!“ Er ist Profi genug, als dass es dennoch kein bisschen gelangweilt klingt und tatsächlich stellt sich das Gefühl ein, dass dies hier ein besonderer Ort ist. Alles scheint viel sortierter, routinierter, orchestrierter zu sein, als an den vielen anderen Plätzen, die ich zuvor gespielt habe.
Nachdem ich meine Ausrüstung zusammengeschraubt habe, was mittlerweile zur liebgewonnenen Routine geworden ist, geht es los. Ich blicke auf ein weites, ebenes Gelände, das von einigen Ginsterbüschen am Rand und diversen Bunkern geprägt ist. Die Anforderungen, die das erste Loch an den Spieler stellt, sind verhältnismäßig deutlich zu erkennen und mit einem angenehm entspannten Abschlag beginnt das Spiel. Das Gras hier scheint grüner zu sein, auch wenn das ausschließlich metaphorisch gemeint ist, denn der Hang zu übertrieben bewässerten Fairways im Sommer ist in Schottland nicht vorhanden. Aber ich bin berührt vom spürbaren lokalen Golfgeist und alle Schläge, die ich mache, fühlen sich besonders an. Auf jedem der ersten Löcher mache ich kleinere oder größere Fehler, die allesamt -teils unglücklich, teils ganz im Gegenteil äußerst glücklich- zu Bogeys führen. Irgendwann stand ich an einer Stelle, an der ich wahrnahm, dass von diesem Punkt vermutlich 20 Minuten in jede beliebige Richtung gehen könnte und immer noch wäre ich auf einem Golfplatz. Wie sehr alles hier auf den Sport ausgerichtet ist, ist beeindruckend.


Als ich mich daran mache gerade am achten Loch meinen Ball ins Spiel zu bringen, nähert sich von der Seite ein Golfcart des hiesigen Ordnungshüters. Ich sehe, wie er kurz im Näherkommen seine Liste mit Spielern, die sich gerade auf dem Platz aufhalten, durchgeht und mich augenscheinlich zuordnen kann. Er hält sich dann auch gar nicht damit auf, mich in irgendeiner Weise nach meiner Abschlagszeit zu befragen, um herauszubekommen, ob ich denn auch bezahlt hätte. Stattdessen taucht er sofort in die Konversation ein. Er schwärmt mir von diesem Ort vor, wie unglaublich er es selbst findet, hier zu sein, am „Home of Golf“. Wir reden kurz über Düsseldorf, wo er vor vielen Jahren auch mal gewesen ist und zwar als Fußballer im damaligen Rheinstadion, der Austausch über Altbier war obligatorisch („Schumacher, great beer!“). Dann fand das Gespräch zurück zum Thema Golf und zwar zu einer Nische, in der ich mich oft finde: Spieltempo. Er meinte, dass er es genauso wie ich machen würde, und die Links am späten Nachmittag genießen würde und brachte seine Verwunderung über diejenigen Einheimischen zum Ausdruck, die sich bei ihm beschwerten, dass es tagsüber so fürchterlich voll sei auf den Plätzen von St. Andrews. So sei es hier halt sei Jahrhunderten und so würde es wohl auch in Jahrhunderten noch sein, man möge halt morgens um sieben oder abends spielen. Schließlich gab er mir noch ausführlich Auskunft über die Spielstrategie für die vom Abschlag aus gesehen nicht ganz einfach zu verstehende anstehende Spielbahn und fuhr fröhlich winkend wieder von dannen. Vor lauter Freude über diese Begegnung machte ich aus der achten Bahn ein unbeschreibliches und vor allem beschreibungsunwürdiges golferisches Desaster, aber immerhin habe ich mich beim Spielen nicht dreckig gemacht.
Es war relativ starker Regen für den frühen Abend angekündigt, der aber den Platz nur ganz kurz streifte und dann für eine wunderschöne Atmosphäre sorgte: Der Geruch, das Licht und die Farben waren genau so, wie sie sein müssen, um einen lauen Spätsommerabend auf einem Golfplatz zu einem Genuss zu machen. Um nun aber nicht wieder zu weit aus meinem Golfloch, in das ich mich in den letzten Wochen hatte fallen lassen, herauszukrabbeln, traf mich dann der ultimative Fehlschlag noch wie aus ganz leicht zugezogenem Himmel: Es galt einen kurzen Schlag von ungefähr 50 Meter Länge auszuführen. Eine der Aufgaben, die normalerweise nicht nur nicht zu meinen Sorgenschlägen auf einem Golfplatz gehört, sondern sogar geradezu immer wieder dafür sorgt, dass auch schlechtere Phasen wieder beendet werden. Wenig macht mir so viel Spaß, wie eine Stunde damit zu verbringen, einen Ball nach dem anderen aus ähnlicher Distanz auf einer Übungsanlage in Richtung einer Fahne zu schlagen. Dabei kann ich mich und meine Umwelt oft völlig vergessen. An diesem Ort, um diese Zeit, bei diesem Wetter freute ich mich geradezu auf den kommenden Schlag, als ich mich in die Ansprechposition über den Ball begab. Ich macht die passende kurze Ausholbewegung, ließ den Schlägerkopf in Richtung Ball starten und sah völlig ungläubig, wie der Ball Sekundenbruchteile später in einem Winkel von etwas weniger als 90 Grad in Richtung eines Dornenbuschs startete und tief darin verschwand. Ein Socket ist der demoralisierendste Fehlschlag, den man auf einem Golfplatz machen kann. Für einen Putt, den man aus 30 cm am Loch vorbeischiebt, kann man ohne Probleme Unaufmerksamkeit ins Feld führen, einen zu fett getroffenen Ball, der gerade mal ein Viertel der vorgesehenen Länge zurücklegt, kann man mit einem guten folgenden Schlag ausgleichen und einen getoppten Abschlag hat man im Laufe seines Golferlebens einfach zu oft gesehen und vermutlich auch gemacht, als dass der einen noch besonders beeindrucken würde. Aber den Ball statt mit der Schlagfläche mit der Stelle zu treffen, die den Schaft mit dem Kopf verbindet, ist nahezu nicht reproduzierbar, sorgt aber nahezu immer für fatale Flugkurven, die den Spieler nicht nur um einen Ball, sondern auch um sein gesamtes Selbstvertrauen erleichtern. Und da war es dann auch schon wieder: Das Gefühl, dass ich -allem Spaß zum Trotz, den ich hier hatte- irgendwie froh war, dass diese Runde fast beendet war. Zwei Löcher waren noch zu spielen, beide spielte ich einigermaßen gut zu Ende, aber dennoch fühlte sich jeder Schlag an, als würde ich ihn zum ersten Mal ausführen. Und eigentlich geht es genau darum beim Golf: Egal, wie viele Schläge man schon gemacht hat, derjenige, der gerade vor einem liegt, wird genau so nie wieder danach gemacht werden und ist nie zuvor schon einmal so gemacht worden. Manchmal vergisst man das. Vielleicht, weil man zu sehr gewohnt ist, in Kategorien zu denken (115 Meter zur Fahne, leichter Wind von rechts: Kenne ich, kann ich, habe ich schon oft gemacht.) und darüber die Originalität des Augenblicks verkennt. Ich sollte schreiben „ich“, statt „man“, denn was weiß ich schon darüber, was andere denken, aber ich habe das Gefühl, dass die Klassifizierung und Einordnung eine zwar verständliche, aber oft sehr hinderliche Herangehensweise ist, um Probleme zu lösen, die nicht nur mir, sondern den allermeisten Menschen zu eigen ist.

Nach der Runde saß ich noch eine Weile neben dem ersten Tee an meinem Fahrrad nachdem ich meine Sachen wieder verstaut und vertaut hatte. Was für ein schöner Tag.

Ich schlief sehr ruhig in dieser Nacht und als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren die beiden anderen Zelte bereits abgebaut und mitsamt ihrer Bewohner nicht mehr zu sehen. Heute wollte ich mir endlich mal einen genaueren Eindruck vom Rest des nicht nur für den Golfsport bedeutenden Städtchens St. Andrews machen. Es wird vermutet, dass die Reliquien des Apostels Andreas im 8. Jahrhundert hierher verbracht wurden und in der vor-reformatorischen Zeit war St. Andrews Bischofssitz, hatte eine bedeutende Burg, die im Laufe der Jahrhunderte mehrfach den Besitzer wechselte und eine sehr bedeutende Kathedrale. Beide Gebäude sind seit langer Zeit nur noch Ruinen, aber nichtsdestotrotz ist ihre Bedeutung geradezu spürbar. Die Bedeutung für Schottland wird nicht zuletzt dadurch klar, wenn man sich die Flagge ansieht: Auf blauem Grund ist dort ein weißes Andreaskreuz. Und da wir schon bei sterblichen Überresten sind: rund um die verfallene Kathedrale ist der Friedhof der Stadt auf dem man das wohl wichtigste Grab des Golfsports findet. Wenn man sich ein wenig rühren lassen möchte, dann empfehle ich das Buch Tommy’s Honor von Kevin Cook. Hier wird die tragische Geschichte von Old Tom Morris und seines Sohnes, Young Tommy, erzählt und beide liegen hier begraben.

Ich hatte eigentlich zwei Tage in St. Andrews eingeplant, um noch einen weiteren Platz hier zu spielen. Neben dem Old, dem New Course und dem ebenfalls bereits erwähnten Jubilee gibt es hier noch den Eden Course. All diese Plätze wären in Deutschland Sensationen allein aufgrund ihres Alters; selbst der Eden-Platz ist bereits 1914 von Harry Colt gebaut worden. Darüber hinaus gibt es noch den Strathtyrum, den Balgove und als jüngsten Sproß der Familie den Castle Course. Die letzten drei (sowie die Erweiterung des Jubilee) sind deutlich jünger, der letztgenannte sogar erst von 2008. Der Andrang auf diesen Ort ist aus Golferkreisen einfach so groß, dass die Vielzahl an Anlagen sich hier zu rechnen scheint. Aber mir war dennoch nicht danach, mich mit einer weiteren Wiese zu messen. Also verbrachte ich mehr oder weniger den ganzen Tag Kaffee trinkend und Kuchen essend in wechselnden Cafés und schrieb an diesem Blog herum. Damit hatte ich aber augenscheinlich etwas Böses heraufbeschworen, den wenige Stunden später fand ich mich in der Vorhölle wieder. Dazu fällt mir gerade die großartige Stand-Up Veranstaltung von Rowan Atkinson ein, die sich auch die- oder derjenige ansehen sollte, der Mister Bean nicht so wahnsinnig lustig findet:

Neben Fish&Chips ist in Großbritannien das indische Essen ein Dauerbrenner. Zum Teil ist das nun einmal bekanntlich auch wörtlich zu verstehen. Ich fand ein überraschend edel eingerichtetes indisches Restaurant. Genauso wie das kurze Spiel beim Golf nicht unbedingt zu meinen Schwächen gehört, so habe ich auch üblicherweise wenige Probleme, wenn es um scharfes Essen geht. Es kommt auch gar nicht selten vor, dass man in einem indischen Restaurant besonders auf den Schärfegrad eines Gerichtes hingewiesen wird. Und genauso, wie bei dem eben beschriebenen 50-Meter-Pitch war ich eher von Vorfreude erfüllt, als ich ein vegetarisches Vindaloo bestellte und der Kellner mich darauf hinwies, dass es sich um ein eher scharfes Gericht handeln würde. Was für eine ignorante Selbstüberschätzung! In den kommenden 24 Stunden war ich an diversen Stellen meines Körpers von Wärme geradezu erfüllt. Am deutlichsten war sie aber beim Einnehmen des Mahls zu spüren. Meine Lippen und mein gesamter Mundraum brannten und das Wasser, dem ich reichlich zusprach, brachte natürlich nur wenige Augenblicke Linderung. Ich schwitzte meine glücklicherweise strapazierfähige Stoffserviette durch, beim grotesken Versuch, nicht zum Gespött der Umsitzenden zu werden. Offensichtlich hatte ich mich zu überlegen gegeben, als ich die Sicherheitsfrage des Kellners abwehrte. Doch wie viele Hügel hatte ich in den letzten Wochen bezwungen, da wollte mich ein einfaches Essen in die Knie zwingen? Ja, wollte es und konnte es. Dämlicher Stolz, dämlicher! Auch das erwinselte Mangolassi brachte nur sehr kurzzeitig und lediglich im Mundraum Heilung. Passend zu der indischen Episode hier noch ein weiterer Ausschnitt aus der Rowan Atkinson-Show von oben:

Ich suchte nach dem Essen noch ein wenig Heil in einem kleinen Verdauungstrip zum Old Course. Außer einem hübschen Foto mit meinem Zweirad vor berühmter Kulisse fand ich dort aber nichts.

Es folgte eine Nacht, in der die zwischenzeitlich geringeren Temperaturen des frühen Herbstes überhaupt kein Problem darstellen sollte. Schlaf fand ich dabei aber nur wenig.

Die cycgo-Auszeichnung für den heutigen Tag ist eine knallrote Carolina Reaper am Hosel.

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